20070601

Griechisches Altertum Wunder Rätsel gw-04

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PYTHAGORAS
(im Rätselschatz auf Blogspot Com)
Mathematik als Wissenschaft

Auszüge aus dem ersten  Kapitel aus : Von Pythagoras bis Hilbert
von Egmont Colerus

Teil 4

Quelle: Egmont Colerus, Von Pythagoras bis Hilbert, Die Epochen der Mathematik und ihre Baumeister, Geschichte der Mathematik für jedermann, 1948, Paul Zsolnay Verlag, Berlin, Wien, Leipzig.
Für dieses Blog mit PC-Text Korrektur aktualisiert von Transitenator.
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Es ist durchaus nicht einfach, diesen Umbruch in der Geistesgeschichte deutlich zu. machen.

Vielleicht lag es sogar Pythagoras selbst ganz ferne, als wissenschaftlicher Revolutionär auftreten zu wollen. Sicherlich hat er in seiner Schule nicht programmatisch verkündet: „Ich werde jetzt aus der Mathematik endlich eine Wissenschaft machen. Bisher war sie ein ziel- und planloses, bloß nach praktischen Gesichtspunkten orientiertes Umhertappen."

So ähnlich konnte ein Immanuel Kant von der Philosophie sprechen — allerdings erst, nachdem er die bisherige Philosophie mit der bisherigen Mathematik verglichen hatte.

Aber Pythagoras, heimgekehrt nach Griechenland aus den verwirrenden Zonen des Morgenlandes, hat bestimmt nichts anderes beabsichtigt, als alles, was er dort erlernt hatte, wiederzugeben. Manches habe man ihm wahrscheinlich verschwiegen, dachte er. Und er müsse für das Gehörte und dort Gelernte Begründungen suchen. Schüler fragten ihn zudem in heiliger Wissbegier nach diesem und jenem.

Und plötzlich — dies die Geburt des Abendlandes — begann sich all das bisherige, von anderen Völkern errungene Wissen in einem anders strukturierten Geist zu spiegeln, durch die Linse hellenischen Genies sich zu brechen und zu sammeln.

Der ordnende hellenische Geist begann das 'Material' zu verarbeiten und 'immaterieller und intellektueller zu erforschen'.

Was heißt das nun wieder?

Wie kommt gerade ein Grieche dazu, ein Angehöriger dieses Augen-Volkes, der 'Sinnlichkeit' der kühlen Rechner Ägyptens und Babylons abzuschwören und das Immaterielle, Unsinnliche und das Intellektuelle, also das rein Verstandesmäßige, in den Vordergrund zu rücken?

Nein, so einfach lagen die Verhältnisse wieder nicht, wie der Aristoteliker Eudemos meint.

Es war nicht bloß die Vergeistigung, die das 'GRIECHISCHE WUNDER' vollbrachte. Noch viel mehr waren es rein optische Eigenschaften des Griechentums, die all das ermöglichten.

Im Planen und Forschen der Hellenen lag durchaus nicht an erster Stelle ein Grübeln, sondern eine Zusammenschau, die sich dann so rasch vollzog.

Gewiss, die Griechen haben uns auch die Logik als Wissenschaft geschenkt, sie schenkten uns aber dazu die platonische Idee, dieses Ur-Bild alles Seins, und sie schenkten uns auch ihre nie wieder erreichte Plastik und Architektonik.

Und alle diese Fähigkeiten waren eben auch bei der Geburt der 'Wissenschaft Mathematik' am Werke.

Jedem Zwecke abhold, nur in sich ruhend, Weltharmonie erstrebend, richtete sich in Pythagoras das Ideal einer logisch, optisch und ästhetisch befriedigenden Mathematik auf, über deren Erkenntnisränder hinaus ihn sogar mystisch-religiöse Schauer packten.

Wir werden in der Folge sehen, wie dieses 'ästhetische Wissenschaftsideal der Hellenen' (wie es Pierre Boutroux in seinem grundlegenden Werk 'Das Wissenschaftsideal der Mathematiker'; B. G. Teubner, Leipzig und Berlin) nennt, die ganze Entwicklung der griechischen Wissenschaft ermöglicht, hemmt und schließlich zerstörend auflöst.

Derartige Behauptungen scheinen ein Widerspruch in sich selbst zu sein. Es scheint aber nur so.

Denn jedes System hat in sich selbst seine Erfüllungsgrenzen.

Worin also — um gegenständlicher zu werden — bestand das umwälzend Neue der neuen 'Wissenschaft'?

Was heißt überhaupt 'Wissenschaft'?
Dem Sprachsinn nach, wie alle auf -schaft endigenden Wörter, wohl gesammeltes, zusammengefasstes, in eine Regel gebrachtes Wissen. Eine Bruderschaft, Verwandtschaft, Freundschaft, Gesellschaft ist die zusammengefasste Gesamtheit von Brüdern, Verwandten, Freunden, Gesellen.
Es ist der Inbegriff aller Brüder usw., der hier in einem Wort ausgedrückt werden soll.

Gut, aber zusammengefasstes Wissen war das Rechenbuch des Ahmes (Anmerkung: 'Rhindpapyrus') aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend doch auch, waren auch die Tontafelbibliotheken Mesopotamiens ?
Warum war das keine echte Wissenschaft?

Wir möchten da ohne Rangordnungs- oder Werturteile feststellen, dass zwischen Technik und Wissenschaft eine tiefe Kluft liegt.

Angewandtes oder, zur Anwendung bestimmtes Wissen ist Technik. Ist Sammlung von Ratschlägen, Rezepten, Verfahrensarten, die ohne weitere Begründung dem Praktiker in die Hand gegeben werden.

Jedenfalls steht auch vor Pythagoras etwas wie Wissenschaft hinter der Rechentechnik.

Aber die ganze Anlage dieser vorhellenischen Mathematik wollte gar nicht bis zu Urgründen vorstoßen, begnügte sich mit rhapsodisch und zusammenhanglos Gefundenem, das sich praktisch eignete, annähernd stimmte.

Und hatte vor allem zu keiner Zeit als Mittelpunkt ihres Forschern das Streben nach Allgemeingültigkeit.

Man zerbrach sich im alten Ägypten den Kopf, über die spezielle Einzellösung einer Haufenrechnung (Gleichung) und dachte gar nicht daran, ähnliche oder analoge Aufgaben auf gemeinsame Regeln zu bringen. Noch weniger fiel es jemandem ein, für alle gleichen Probleme eine gleiche Schreibart auszubilden. Wir werden erst viel später erkennen, was alles damit 'noch nicht geleistet' war.

Auf jeden Fall hat das 'Mathematiker-Verzeichnis' nicht einmal dem Thales von Milet die Zensur des streng Wissenschaftlichen erteilt, obgleich es ihm zubilligt, „das eine sinnlich fasslicher, das andre wieder allgemeiner behandelt zu haben".

Wir müssen hier, um keine Missverständnisse zu erzeugen, anmerken, dass sowohl Ägypter als Babylonier sicherlich nicht jeder Theorie entbehrten.
Nur war ihre Theorie, so weit wir es heute überblicken können, durchaus nicht spekulativ, nicht deduktiv, sondern probierend und induktiv.
Sie holten äußersten Falls das 'Allgemeingültige' eines mathematischen Problems aus vielen Einzellösungen, wenn sie so etwas überhaupt unternahmen.

Fast niemals jedoch leiteten sie das Einzelne aus dem 'Allgemeingültigen' her.

Es ist aber gerade die Eigenschaft und zwar die grundlegendste Eigenschaft der Mathematik, dass ihre Forschungsmethode den zweiten, den deduktiven Weg gehen muss, um sie wirklich zur Höhe zu führen und um aus ihr ein auch für die Praxis taugliches Werkzeug zu schmieden.

Wir sprachen das Wort 'Werkzeug' aus. Also soll Mathematik doch bloß ein Werkzeug sein?

Gewiss, sie soll es in irgend einem Stadium einmal sein. Denn ein vollständig zweckloses Beginnen wäre nichts als Spielerei des Geistes oder 'Denksport', wie man heute ab und zu sagt.

Den Griechen der olympischen Spiele lag ein solcher geistiger Sport sicherlich nicht allzu ferne. Und nicht nur Pythagoras hat die rein erzieherische Seite der mathematischen Beschäftigung sehr stark hervorgehoben. Aber auch die rein körperliche Ertüchtigung durch athletische Übungen bleibt letzten Endes nicht Selbstzweck.

Man kann sich nicht stets mehr und mehr ertüchtigen, um schließlich bloß an der Tüchtigkeit an und für sich Freude zu empfinden. Dahinter liegt und lag stets ein Wehrgedanke, ein Aufstiegsgedanke eines ganzen Volkes, ein Ideal der Tüchtigkeits-Bereitschaft.

Und dadurch löst sich der nur scheinbare Zwiespalt zwischen 'Wissenschaft als Selbstzweck' und 'Wissenschaft als Werkzeug' sehr leicht und harmonisch:
Eine kleine Schar von Bahnbrechern, berauscht von heiligem Drang, vergisst, wozu Werkzeuge geschaffen werden sollen.

Das Werkzeug wird in sich und an sich, nach Grundsätzen, die in den Tiefen der geistigen und intuitiven Struktur der jeweiligen Schöpfer liegen, zur möglichsten Vollendung und Abrundung gebracht.

Mag es dann anwenden, wer es will und wer es braucht. Auf jeden Fall wurde das Arsenal der Waffen des betreffenden Volkes oder der Gemeinschaft vermehrt.



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